The Unfinished Swan-Entwickler Giant Sparrow erzählt in der interaktiven Novelle What Remains of Edith Finch eine wunderschöne und zugleich unendlich traurige Geschichte, die mitten ins Herz trifft. Warum der Titel eines der besten Erzählspiele der letzten Jahre ist und wie eine gut erzählte Geschichte ausschauen muss, erklären wir euch in unserem Test.
Fieser Familienfluch
Ein vermeintlich fieser Familienfluch lastet auf der Familie Finch. Durch tragische Todesfälle und Schicksalsschläge ist Protagonistin Edith die letzte noch lebende Finch. Als Spieler schlüpfen wir in die Rolle der 17-Jährigen und erkunden im Jahre 2010 aus der Ego-Perspektive das riesige, mittlerweile verlassene Anwesen der Familie. Auf einer Klippe stehend und durch immer neue Räume erweitert worden, besitzt das Gebäude große Ähnlichkeit mit dem „Fuchsbau“ der Weasleys aus Harry Potter.
Schon der erste Moment im Spiel, als wir mit Edith den Wald verlassen und das Familienanwesen zu Gesicht bekommen, lässt annähernd erahnen welch tieftraurige, aber auch wunderschön erzählte Geschichte uns in den kommenden drei bis vier Stunden erwartet.
Um What Remains of Edith Finch mit wenigen Worten in ein Genre-Korsett zu zwängen, könnte man den Titel als interaktive Novelle bezeichnen, vergleichbar mit Gone Home, Everybody’s Gone to the Rapture oder The Vanishing of Ethan Carter.
Wie eine verschlossene Zeitkapsel
Der Fokus des Spiels liegt ganz klar auf der Erkundung des Hauses, um die Familiengeschichte zu erfahren. Die Interaktionsmöglichkeiten halten sich zwar stark in Grenzen, trotzdem ist der Titel kein bloßer Walking Simulator, sondern setzt sämtliche Interaktivität clever ein, um die Handlung zu unterstützen. Auf richtige Rätsel müsst ihr hingegen verzichten. Die Schwierigkeit liegt viel eher darin, die verstreuten Mosaiksteinchen zu einem passenden Bild zusammenzufügen.
Mehrere Generationen haben in dem Anwesen der Familie Finch gelebt, jedes Zimmer ist durch Ediths Mutter nach dem Tod eines Familienmitglieds versiegelt worden. Durch geheime Zugänge können wir diese Schauplätze allerdings trotzdem betreten und stehen so jedes Mal in einer ganz eigenen Welt. Es ist, als ob wir nach langer Zeit als erste Person eine verschlossene Zeitkapsel öffnen und über ihren Inhalt staunen. Jjedes Zimmer ist so individuell gestaltet wie Menschen nun einmal sind.
Detailverliebtheit schreiben die Mannen von Giant Sparrow anscheinend groß. Fotos, Plakate, Spielzeug, Bücher, Pokale, Medaillen und mehr verraten viel über die Personen, die hier gelebt haben.
Im Vordergrund steht das tragische Ende eines meist viel zu kurzen Lebens. Die verschiedenen Tode der Familienmitglieder werden wie kleine Geschichten innerhalb der zusammenhängenden Handlung erzählt und sind teils kurz und teils komplexer aufgebaut. Eines haben diese aber immer gemeinsam, die Entwickler haben sich wirklich Gedanken gemacht und diese wunderschön, aber auch tieftraurig umgesetzt. Oft wird die Vorgeschichte, die zum plötzlichen Tod geführt hat, metaphorisch und künstlerisch abstrakt erzählt.
Thematisierung von Tabuthemen
Die zehnjährige, katzenbegeisterte Molly beispielsweise stopft abends voller Hunger alles in sich hinein, was sie findet, unter anderem auch giftige Beeren.
Durch die darauf folgenden Halluzinationen (oder bedingt durch die kindliche Fantasie des kleinen Mädchens) erlebt der Spieler aus den Augen einer Katze die Jagd auf einen Vogel, wird zu einer Hasen jagenden Eule, taucht plötzlich als hungriger Hai einer Robbe hinterher und schlängelt sich auf einem Schiff schließlich als riesiges Monster auf seine hilflosen Opfer zu.
Der endgültige Tod des kleinen Mädchens und auch der anderen Familienmitglieder spielt sich anschließend lediglich in unserem Kopf ab, wird uns vom Spiel aber nie explizit gezeigt. Ab und an ist klar, was gerade passiert, manchmal überlassen die Entwickler es aber auch unserer Fantasie, die Geschichte zu Ende zu bringen.
Zurück bleiben nach einer solch intensiven und traurigen Geschichte aber ein Kopf voller Gedanken und ein offener Mund. Schließlich ist der Tod von Kindern in Videospielen fast immer ein absolutes Tabuthema, dessen sich nur die wenigsten Entwickler annehmen möchten. Durch Metaphern und Bilder gelingt in What Remains of Edith Finch die Gratwanderung zwischen einem respektvollen Umgang, einer träumerischen Umschreibung und der schonungslosen Realität nahezu perfekt. Zu Gesicht bekommen wir allerdings nicht immer nur die Schattenseiten der oft sehr kurzen Lebens, auch die entsprechenden Freuden werden gezeigt.
Bei Familienmitglied Lewis beispielsweise erleben wir zunächst den Alltag in einer Konservenfabrik und trennen stupide tagein, tagaus den Kopf von Fischen ab, bis wir schließlich in die Fantasie der Spielfigur abtauchen. Hier begeben wir uns auf eine Abenteuerreise fernab des vor uns unaufhörlich laufenden Fließbandes. Allerdings bleiben Realität und Fiktion weiterhin spielmechanisch miteinander verknüpft. Wir trennen ohne eine Verschnaufpause unzählige Köpfe ab, während wir uns im Vordergrund durch eine fiktive Spielwelt bewegen und letztendlich sogar zum König gekrönt werden.
Sonderlich anspruchsvoll sind diese Momente von der spielerischen Seite aus zwar zu keiner Zeit, aber die Kombination aus Tagtraum und der grauen Realität ist perfekt inszeniert und hat bei uns einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Diese Szenen untermauern so stark, wie es kaum ein anderes Medium könnte, die erzählerische Ebene eines Novels mit dem spielmechanischen Gameplay eines Videospiels. Doch egal welche Geschichte wir gerade erleben, die Tragödien liegen oft schon mehrere Jahrzehnte zurück und wir können daran absolut nichts ändern – sind also zum Zusehen verdammt. Wirkliche Angst oder Grusel kommen im Verlauf der Handlung zwar nicht auf, da das Haus liebevoll und detailverliebt entworfen worden ist, die dichte und beklemmende Atmosphäre hält uns aber so gut wie immer fest umschlossen.