London. Die pulsierende Metropole Großbritanniens ist in einem zwiespältigen Zustand. Einerseits wirkt die Stadt so vielfältig und technisch fortschrittlich wie noch nie, andererseits sind das Elend, die Unterdrückung der Bevölkerung und die extrem gestiegene Arbeitslosigkeit zwischen den flimmernden AR-Simulationen und Propaganda-Tafeln unübersehbar.
Wovon ich rede? Dem Post-Brexit-Szenario in Watch Dogs: Legion natürlich! Wir durften uns vier Stunden lang einen Eindruck von dem Action-Adventure verschaffen und können euch nun an fünf Erkenntnissen teilhaben lassen, die unsere Erfahrung zum Wechselbad der Gefühle und die spielerischen Stärken zu Schwächen machten.
1. Es wird ziemlich ernst – oder doch nicht?
Die rebellische Hacker-Gruppierung DeadSec hat es nicht leicht. Nach verheerenden Explosionen im Zentrum Londons muss ein Schuldiger gefunden werden. Blöderweise wird DeadSec die üble Tat angehangen und seine Mitglieder zu Unrecht als Terroristen tituliert. Dabei waren Zero-Day die Schurken. Gemeinsam mit DeadSec-Leader Sabine und KI Barley wollen wir deshalb herausfinden, wer hinter Zero Day und den terroristischen Akten steckt, um unseren Ruf wiederherzustellen.
Klingt ernst? Ist es irgendwie auch. Zumindest kommt uns „Watch Dogs: Legion“ weitaus düsterer als seine Vorgänger vor. Den etwas schrägen Humor behält das Game allerdings trotzdem bei und lockert die angespannte Stimmung im halb-dystopisch und vollständig überwachten London immer wieder durch Witz und Sarkasmus auf. Politischen Diskus werdet ihr dabei nicht finden. Obwohl das Szenario auf einer realen Grundlage erschaffen wurde, bleibt ein klares Statement zum EU-Austritt von Großbritannien aus. Es bleibt also gewohnt unseriös und wertefrei.
2. Protagonisten wechseln wie Unterhosen
Umso mehr Innovation bringt Legion dafür mit dem neuen Rekrutierungssystem ins Spiel. Und was sollen wir sagen: Die Wahl des Protagonisten und der fliegende Wechsel funktionieren erstaunlich gut. Mit der Möglichkeit alle NPC zur aktiven Spielfigur zu machen, können sich gewöhnliche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft in wahre Hacker-Helden verwandeln – ohne Einschränkung. Damit stehen euch eine schier endlose Auswahl und Kombinationsvielfalt von Eigenschaften und Skills zur Verfügung, die ihr auf Missionen stets zu eurem Vorteil nutzen und damit auf verschiedenste Art und Weise absolvieren könnt.
Ihr wollt bessere Connections zur Polizei, um schneller aus dem Knast kommen oder euch problemlos Zutritt zum Revier verschaffen? Rekrutiert einen Polizisten. Ihr wollt unauffällig über Baustellen laufen und immer eine Cargo-Drohne dabeihaben, um Gebiete abzuchecken oder Hochhäuser zu erklimmen? Holt euch einen Bauarbeiter ins Team. Besonders gut geskillte Persönlichkeiten werden dabei praktischerweise auf der Map markiert. Sollten die potenziellen Mitglieder DeadSec gegenüber zunächst abgeneigt sein, ist das kein Problem. Ein erledigter Auftrag oder euer Einfluss auf die jeweilige Region ändert die Meinungen schnell.
Der Perma-Death ist in „Watch Dogs: Legion“ übrigens eher optional. Nach etwa 15 Minuten sind die lediglich außer Gefecht gesetzten und in den Knast gewanderten Charaktere wieder spielbar. Beißt ihr euch also an einer Mission die Zähne aus, wechselt einfach eure rekrutierten DeadSec-Mitglieder durch und nutzt den gespeicherten Fortschritt. Dabei eine Bindung zu einem der vielen Protagonisten aufzubauen, ist allerdings denkbar schwierig und nimmt dem Spiel leider ein wenig Persönlichkeit.
3. Rappende Auftragskiller und knackig junge Omis
Eines gleich vorweggenommen: Die völlig freie Charakterwahl kann sich in Sachen sprachlicher, kultureller und allgemein menschlicher Vielfalt wirklich sehen lassen. Leider kommt dabei auch einiges an seltsamer Synchronisationen zustande, denn die mit jedem x-beliebigen Londoner NPC möglichen, voll vertonten Cutscenes haben ihren Preis und zaubern dem hochprofessionellen Auftragskiller im seriösen Anzug plötzlich die Sprechart eines Gangsterrappers und eine alte Lady klingt plötzlich wieder wie in ihren 20ern, statt aus den 20ern.
Im Großen und Ganzen funktioniert das zwar und wir kennen derartige Synchro-Unfälle letztlich auch von NPCs aus anderen Hochkarätern wie The Witcher 3. Bei einem Game wie „Watch Dogs: Legion“, das mit seinem innovativen Protagonistenwechsel glänzen möchte, kommt das bisweilen zufällige Voice Over dann aber doch recht befremdlich und etwas unausgereift rüber. Immerhin erleben wir hier keine zufälligen Nebencharaktere, sondern durchlaufen die Hauptstory mit unseren Protagonisten. Der Vorteil: Sollte es allzu abgefahren werden, könnt ihr eure Hauptfigur wenigstens austauschen und auf ein besseres Stimmen-Match hoffen.
4. Was macht denn die Ubisoft-Formel hier?
Irgendwie können wir uns dunkel daran erinnern, dass da was war … Ach ja! Die Ubisoft-Formel sollte doch einem abwechslungsreicheren und individuelleren Game-Design weichen – oder? Immerhin hagelte es spätestens nach Ghost Recon: Breakpoint so einiges an Kritik an dem immer gleichen Gameplay-Schema, sodass sich Ubisoft an eine neue, verbesserte Formel machte. Aus diesem Grund wurde scheinbar auch der Release von „Watch Dogs: Legion“ nach hinten verschoben.
Aber was sehen wir denn da? Das Einnehmen von Bezirken in einer offenen Welt, unzählige Nebenaktivitäten, großzügig gesetzte Markierungen und Icons auf der Karte zum Abklappern und eine böse Organisation, die gegen uns arbeitet … Kommt uns das nicht irgendwie verdächtig bekannt vor? Irgendwie schon, aber Ubisoft bemüht sich hier wenigstens um etwas mehr Innovation und Daseinsberechtigung. Bei einigen unserer Sidequests finden wir nun hier und da eine Notiz mit etwas mehr Kontext, der Ablauf wirkt weitaus storygebundener und weniger mechanisch sowie zufällig. Auch die Bonusaufgaben fühlen sich nicht so an, als wären sie alleinig zum Strecken der Spielzeit gedacht.
Vor allem das Szenario des vollständig überwachten Londons mit einer gespaltenen Bevölkerung wird erst richtig deutlich, wenn man dem Spiel etwas Erkundungszeit schenkt. Motiviert wird der Spieler in jedem Fall und mit nützlicheren Boni wie den Tech Points zum Ausbau von Fähigkeiten und Hacking-Equipment belohnt. Mit den vereinnahmten Bezirken wird der Hackergruppe außerdem spürbar mehr Kontrolle und Freiheit eingeräumt und besonders nützliche Team-Mitglieder ermöglicht.
5. Zwischen Freiheit und Jump’n run-Zwang
Die offene, belebte Spielwelt von „Watch Dogs: Legion“ kann dabei auf vielfältige Weise erkundet werden. In der Vorschau haben wir uns hierfür ständig eine Cargo-Drohne geschnappt und uns das alternative London nur zu gerne von oben angesehen. Dort war es auch etwas sicherer, wenn ganz GTA-like eine Fahndung nach uns gestartet wurde, weil wir uns wieder mal der Selbstjustiz schuldig gemacht haben.
Neben den nützlichen Flugobjekten, gibt es auch bewaffnete Kampf-Drohnen und den überaus nützlichen Spinnenroboter, der uns unter anderem beim Hacken außerhalb unseres Sichtfeldes oder beim Erreichen von Loot gute Dienste leistete. Die Wege in Spider-Bot-Perspektive zurückzulegen war allerdings häufig ziemlich abgefahren und führte uns durch eigentümliche Jump ’n‘ Run-Passagen, die uns ein wenig aus dem Genre gerissen haben.
Schlussendlich scheint das Ganze jedoch einfach dem Gesamtprinzip des riesigen Stealth-Puzzles anzugehören, das auf den Namen „Watch Dogs: Legion“ hört. Mit altbekannten und neuen Minispielen, AR-Simulationen und einer schier endlosen Auswahl an Protagonisten, Zugangswegen, Gebietserkundungen via Kameras und dutzenden Hacking-Optionen fehlt es dem Game jedenfalls nicht an Lösungsansätzen, Kreativität und Abwechslung.
Ob die Fortsetzung mit dieser Menge an Optionen damit jedoch den entscheidenden Nerv der Spieler trifft, bleibt noch abzuwarten.
„Watch Dogs: Legion“ erscheint samt Ray-Tracing auf den Next-Gen-Konsolen PS5 und Xbox Series X. Doch auch PS4, PC und Xbox One kommen zum Release am 29. Oktober 2020 in den Genuss des Action-Adventures.