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In der Geschichte von Life is Strange sind zwei Dinge seit jeher wesentliche Träger: Emotionen und Musik. Dieses wirkungsvolle Fundament scheint im dritten Teil der Hauptreihe seinen Höhepunkt zu finden: Life is Strange: True Colors. Doch von vorn: Ich habe der malerisch-aufwühlenden Welt einen mehrstündigen Besuch abgestattet und Protagonistin Alex Chen auf einer Reise begleitet, die ich nicht mit der klassischen emotionalen Achterbahn zusammenfassen kann. Denn hier passiert etwas, dass über Gefühle und bloße Entscheidungen hinausgeht.
Der Einstieg in Life is Strange: True Colors
Inzwischen gibt es für mich einen festen Ritus, wie ich Spiele der „Life is Strange“-Reihe spiele. Vor allem gebe ich mir viel Raum, um mich auf die Story einzulassen und in die Welt einzutauchen. Was sich bei den meisten Games recht gut anbietet, ist bei LiS absolut elementar, um gänzlich in den Bann der Geschichte gezogen werden zu können. Geräusche, Dialoge und ganz besonders die Musik entfalten erst mit Kopfhörern ihre volle Wirkung. Zeit sollte nebensächlich sein und Ablenkung vermieden werden. True Colors bildet da keineswegs eine Ausnahme. Also: Check, Check und Check.
Danach kann meine Reise als Alex Chen beginnen, die nach dem Tod ihrer Eltern von ihrem Bruder Gabe getrennt wird und ihn erst nach acht Jahren voller Therapiesitzungen, Pflegefamilien und Couchsurfing in Haven Springs wiedersieht. Ein neues Leben steht vor der Tür. Was niemand weiß: Alex begleitet seit jeher eine Fähigkeit, die sie eher als Fluch denn als Superkraft sieht. Sie kann die Emotionen anderer Menschen wahrnehmen, fühlen und für sich nutzen.
Visualisiert wird das in Form bunter, leuchtender Auren, die die Menschen umgibt. Jede Farbe steht hierbei für eine andere Gefühlslage. Blau ist beispielsweise Trauer, Rot die Wut und Violett die Angst. Sind die Emotionen stark genug, kann sie sogar die Gedanken der betreffenden Person hören oder gänzlich in die Gefühlswelt eintauchen und fremde Erinnerungen abrufen. Von dieser Gabe muss Alex widerwillig gebrauch machen als sie ihr Leben in Haven Springs plötzlich ohne ihren Bruder beginnen und ein Geheimnis aufdecken muss…
Wie strange ist die deutsche Sprachausgabe?
Gehen wir darauf gleich zu Beginn kurz ein: Erstmalig hat eine deutsche Sprachausgabe in Life is Strange gefunden, die von den einen sehnlichst erwartet und den anderen mit Skepsis entgegengenommen wurde. Fakt ist jedoch: die englische Original-Vertonung muss keiner missen, immerhin kann man das Spiel genauso gut im O-Ton spielen.
An die deutsche Synchro gewöhnt man sich außerdem schneller als gedacht. Die Stimmen sind überwiegend gut gewählt und letztlich transportiert Life is Strange über Musik, Momente der Stille und die Story zwischen den Zeilen nicht weniger als über die tatsächlich gesprochene Sprache. Einen spielverändernden Unterschied bemerken wir lediglich darin, nicht länger an Untertiteln kleben zu müssen oder im Dauerübersetzungsmodus zu sein. Für uns also ein Pluspunkt.
Haven Springs: Zu schön, um wahr zu sein
Haven Springs, das in den malerischen Rocky Mountains liegt, ist fast ein wenig zu pittoresk, zu modern, zu perfekt, um einem realen Ort zu gleichen. Wer keine episch-schönen Sonnenuntergänge, Hirsche im Vorgarten und leuchtende Blumen am plätschernden Gebirgsbach erträgt, weil sie einfach zu schön sind, um nur ansatzweise der Realität zu entsprechen, implodiert bei „Life is Strange: True Colors“ wahrscheinlich. Dieses Bild ist allerdings Programm, ebenso wie Yogakurse mit Ziegen, Craftbier-Witze und LARP-Conventions in einer eigentlich abgeschiedenen Bergbaustadt.
Als wäre es damit noch nicht genug, gibt’s als Bonus die Hipster-Männer mit Holzfäller-Hemd und Flauschebart, die pseudo-hart wirken, innerlich aber genau so soft sind wie ihre Gesichtsbehaarung. Und nicht zu vergessen die taffen Frauen und Queer-Mädchen, die offen über ihre Periode sprechen, sich für Tech, IT, Roboterkämpfe und Comics interessieren und als selbstbestimmte Künstlerinnen einen Weed-Shop führen. Garniert wird das Ganze mit einem bösen Konzern namens Typhon, der die kleine Ortschaft womöglich unterdrückt und die Bewohner*innen mit friedvollen Frühlingsfesten ablenkt.
Was im ersten Moment so idealweltlich oder für manche unangenehm aktuell wirken mag, bildet schlussendlich nicht nur etwas, das es Wert ist derart offen und mit einer Prise Klischee zu thematisieren, sondern auch den wirkungsvollen Kontrast zu dem, was hinter den bunten Fassaden und lässigen Sprüchen schlummert: echte Schicksale mit ihren großen Gleichmachern: Angst, Krankheit, Trauer, Wut, Verzweiflung und Tod. Die Ausgangslage ähnelt demnach stark den Vorgängern: Nach einem ersten idyllischen Einstieg schlägt einem die Tragik mitten ins Gesicht.
Ich darf hier wirklich rumlaufen?
Getröstet werden wir durch eine ganz bestimmte Gameplay-Neuerung in „Life is Strange: True Colors“: Die Möglichkeit der Erkundung. Und dieser Erkundungsbereich begrenzt sich diesmal nicht nur auf klitzekleine Gebiete, sondern umfasst einiges mehr. Was für andere Spiele bereits Usus ist, ist für True Colors ein enormes Upgrade, aber keineswegs zu weit von der Eigenart der LiS-Reihe entfernt, um Gefahr zu laufen, den Fokus aufs Wesentliche zu verlieren.
Nach dem ersten Kapitel habt ihr die Möglichkeit Haven Springs auf eigene Faust zu erforschen, verschiedene Läden zu betreten und euch sogar Nebenaktivitäten zu widmen. Durch die schaltet ihr nicht nur Errungenschaften frei, sondern beeinflusst ganz nebenbei den Spielverlauf. Mit wachen Augen durch die Spielwelt zu laufen, wird also belohnt – auch wenn manche Wege etwas unelegant versperrt sind und Alex mich bisweilen vom Sightseeing abhält, indem sie galant umlenkt.
Immerhin kann man sich so besser auf entscheidende Orte konzentrieren und leichter Erinnerungen entdecken, die ihr mithilfe von Alex‘ Fähigkeiten aktivieren könnt. Dafür muss sie sich entweder voll den Emotionen ihres Gegenübers hingeben und kleine Nebenmissionen freischalten oder Gegenstände finden, die mit einer Erinnerung verknüpft und somit nacherlebbar sind. Beides wird in der Spielwelt durch ein entsprechendes Symbol gekennzeichnet, auf das ihr Alex‘ Kraft anwenden könnt. So schaltet ihr unter anderem kleine Sequenzen, neue Dialogoptionen oder Einsichten frei, die euch im Spielverlauf unterstützen können.
Beispielsweise könnt ihr so einer Vogelfreundin helfen, den Vogel zu finden, den sie unbedingt mit ihrem Fernglas beobachten möchte, einen Fremden wieder mit seinem Hund vereinen, Kumpel und Kumpeline verkuppeln oder euer eigenes Apartment auf Hinweise der Vergangenheit absuchen. Eigenes Apartment? Nein, ich habe mich nicht verschrieben. In True Colors dient euch die Wohnung über der historischen Black Lantern Bar als tatsächlicher Rückzugsort.
Home is where the Playbox is
Erstmalig habt ihr eine Basis, zu der ihr immer wieder zurückkehren könnt, um durchzuatmen und die Geschehnisse auf euch wirken zu lassen. Hier könnt ihr je nach Kapitel sogar eure Klamotten wechseln und beispielsweise in ein Shirt mit dem Logo der Wolf Brothers aus Life is Strange 2 schlüpfen. Oder aber ihr daddelt an den Arcade Automaten eines der durchaus spaßigen Retro-Minispiele wie Arkanoid oder Mine Haunt, um den High Score eures Bruders zu knacken oder betreibt ein wenig Nostalgieforschung, indem ihr euch die verschiedenen Objekte in der Wohnung genauer anseht.
Die ikonische Playbox ist hier natürlich auch wieder am Start ebenso wie die Möglichkeit Tagebucheinträge nachzuschlagen. Oder aber ihr checkt eure SMS und euren Twitter… ich meine natürlich Myblock-Feed und werdet hierfür mehr denn je belohnt. Im Tagebuch findet ihr nämlich nicht nur coole Songtext-Kritzeleien von Alex, sondern könnt jederzeit weitere Gedanken freischalten, indem ihr ihre Notizen zu Erlebnissen oder Gegenständen noch einmal nachschlagt.
In eurem Smartphone verstecken sich dagegen weitere Bonusinfos, hilfreiche Stories, witzige Easter Eggs, Hintergründe zur Stadt und ihren Bewohner*innen. Das Background-Wissen wiederum kann dabei helfen, wichtige Entscheidungen mit mehr Sorgfalt zu fällen. Und hey: es macht wirklich Spaß die Posts und Nachrichten zu lesen. Sie wirken echt und nahbar genug, dass man denken könnte, man würde heimlich die Nachrichten einer fremden Person lesen.
Habt ihr genug gescrollt, könnt ihr es euch auf der Dachterrasse gemütlich machen und euren Blick über Haven schweifen lassen – natürlich mit hübscher Sicht auf den See. Von der Terrasse aus sieht die Stadt zwar menschenleer aus, sobald ihr eure Wohnung verlasst, füllt sich das Städtchen allerdings mit Leben – und Liebe.