Womit die Slightly Mad Studios Spieler und Entwickler gleichermaßen von ihrer neuen Konsole überzeugen wollen, ist nicht nur „ein wenig verrückt“. Es zeigt in erster Linie, dass das Entwicklerstudio Spieler gnadenlos unterschätzt.
180 FPS in 4K, problemlose Unterstützung aller gängigen VR-Headsets und Rechenleistung aus der fernen Zukunft. Genau das sind die Merkmale, bei denen richtige Hardcore-Gamer ein gieriges Funkeln in den Augen bekommen. Arkane Zauberworte, die Geldbeutel auf der ganzen Welt aufspringen und Shut-Up-And-Take-My-Money-Memes in den Timelines aufpoppen lassen. Zumindest wenn man wie Ian Bell denkt.
Der Slightly-Mad-Chef meldet sich am 2. Januar extra für die Ankündigung der ersten Standalone-Konsole seines Studios bei Twitter an und verfällt innerhalb weniger Stunden in Tweet-Ekstase. Seitdem vergeht kein Tag, an dem Bell zwischen höchst fragwürdigen Aussagen zu sozialpolitischen und ökologischen Themen sein neuestes Baby nicht mit künstlich aufgepumpten Superlativen bewirbt.
Bell, kreativer Kopf hinter Project Cars und Need for Speed: Shift, reiht sich dabei in eine lange Liste an Entwicklern ein, die sich mindestens so sehr über mediale Lautstärke wie über ihre Produkte definieren. Damit gehört er heutzutage eigentlich schon zum alten Eisen. Denn als Halbgötter verehrte Rockstar-Entwickler wie Cliff Bleszinski, Peter Molyneux oder John Romero sind in der Branche mittlerweile aus den verschiedensten Gründen rar geworden. Wenn sich Bell also nicht durch geschmacklose Werbung oder Kettensägenknarren profilieren kann, wie dann die Gaming-Welt in Aufruhr versetzen? Natürlich mit jeder Menge Bombast und heißer Luft rund um ein Produkt, das in dieser Form aller Voraussicht nach keine neue Spielerfahrung bieten wird – wenn es überhaupt erscheint.
Warum die Mad Box eine Lösung für ein nicht vorhandenes Problem darstellt
Zoomen wir kurz heraus und werfen einen Blick auf den Status quo in der Konsolenlandschaft: Die PlayStation 4 Pro bietet bei einigen Titeln 60 FPS in 4K, nicht spezifisch darauf ausgelegte Spiele werden mehr oder weniger gut hochskaliert. Die Xbox One X ist hardwareseitig die mächtigste Konsole auf dem Markt, schöpft ihr Potenzial aber zu keinem Zeitpunkt komplett aus. Und die Nintendo Switch? Die fokussiert sich auf gänzlich andere Tugenden und ist als einzige der Current-Gen-Konsolen nicht für grafisch, sondern für spielerisch und innovative First-Party-Titel und deren Interfaces bekannt.
Die Mad Box will mindestens die Vorzüge der ersten beiden Konsolen aufgreifen, darauf aufbauen und mit ihrer Hardwarepower endlich auch eingefleischte PC-Spieler auf die Couch locken. Die ersten präsentierten Designkonzepte sind schrill, wirken überdimensioniert und wie ein grellbunter Throwback in die 90er Jahre – inklusive eines Tragegriffs für die augenscheinlich ziemlich schwere Konsole. Ein Schelm, wer dabei an den Transport von archaischer Hardware zu LAN-Partys in Wäschekörben oder auf Sackkarren denkt.
Wie schnell die Slightly Mad Studios zurückrudern und schließlich doch die eigentlich verhasste „stinkende schwarze Box, die man in seinem Regal verstecken möchte“ präsentieren, zeigt deutlich, wie falsch Bell seine Kundschaft und Spieler generell einschätzt. Aber nicht nur in dieser Hinsicht greift der Studiochef mit seinen großen Plänen daneben.
Die nächste Besonderheit, namentlich die Ausrichtung auf VR und das Versprechen von 90 FPS pro Auge, ist ebenso marktfern wie die tatsächliche Veröffentlichung der Konsole. Trotz sinkender Preise für Hardware ist Virtual Reality nach mittlerweile drei prophezeiten Durchbruchsjahren immer noch eine Nischenerscheinung – abgesehen von publikumswirksamen und zugänglichen Spielereien für Google Cardboard oder an Mobilgeräte gebundene Headsets. Das liegt nicht nur an schlichten Platzproblemen – Wohnraum wird teurer, eigens eingerichtete „Spielzimmer“ können sich die wenigsten leisten – , sondern auch an gesundheitlichen Hindernissen hinsichtlich Schwindel, Gleichgewicht und Sehstörungen, die vielen Spielern den Weg in die VR verbauen.
Stichwort Sehstörungen: Der vielleicht größte Mangel des Mad-Box-Projekts ist seine mangelnde Transparenz. Wie genau Bell Entwicklern ermöglichen will, ihre bestehenden Titel für die aus Marktsicht wichtigen Konsolen auf seine Wunderkiste zu portieren, steht in den Sternen. Ähnlich verhält es sich mit den verwendeten Hardwarekomponenten und wie das Studio nun genau mit Exklusivtiteln, den wohl wichtigsten Verkaufsargumenten für geschlossene Konsolensysteme, umgehen will.
Selbst die vollmundige Ankündigung einer kostenfreien Engine, die Entwicklern die Produktion der heißesten Gaming-Erfahrungen der Milchstraße ermöglichen soll, wirkt eher wie eine Drohung als eine Einladung. Wie das als Geschäftsmodell funktionieren soll? Auch darüber schweigt sich Bell noch aus.
Was Ian Bell mit all seinen Aussagen, Versprechungen und Schnellfeuer-Tweets suggeriert: Die Spielebranche hat ein Problem, und die Slightly Mad Studios haben die Lösung. Eine Standalone-Konsole, augenscheinlich ohne Exklusivitätszwang, mit kostenfreier Engine, Ein-Klick-Porting und einem zukunftsweisenden Design. Wer jetzt einsteigt und die Zukunft der Videospiele mitgestaltet, wird fürstlich belohnt. Lebenslang Gratisspiele für diejenigen, die ein Selfie mit der Konsole posten, oder ein Preisgeld im fünfstelligen Bereich für den besten Werbeclaim sind nur zwei der Versprechungen, die Bell allen Hype-Train-Frühbuchern verspricht.
Und ja, die Spielebranche hat ihre Probleme. Nicht dazu gehören zu wenige blinkende Lichter an der Peripherie und Designkonzepte, die maximal 00er-Jahre-Trash-Chic und kein Stück Modernität versprühen. Ebensowenig gehört mangelhafte VR-Kompatibilität auf die Checkliste für all das, was in der Branche schiefläuft. Gerade aufgrund des Fokus auf solche Oberflächlichkeiten ist es nur eine Frage der Zeit, bis Slightly Mad die Notbremse ziehen oder mit dem ersten echten Desaster der Next-Gen-Konsolengeschichte rechnen muss – 180 FPS hin oder her.