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Life is Strange: True Colors – Eine Ode an die emotionale Macht der Musik – Test

Die Sache mit der Liebe

Bereits früh im Spiel werden euch die beiden Love Interests quasi nebeneinander vorgestellt: Steph und Ryan. Hierbei muss sich Alex nicht sofort entscheiden, zu wem oder ob sie sich überhaupt zu jemandem hingezogen fühlt. Ihr könnt euch auch ausschließlich freundschaftlich mit beiden verstehen oder stückweise etwas Romantik zulassen. Ich hatte den Eindruck, dass sich hierbei eine Person als kanonisch hervorhebt, ganz sicher bin ich hierbei aber nicht.

Wundervoll fand ich allerdings, dass Alex‘ Empathie bei Steph und Ryan einen anderen Stellenwert einnimmt und sich eine weitere Form der Verbundenheit hinzugesellt. Gerade bei den beiden Romantikoptionen wurde deutlich, wie viel Mitgefühl bewirken und ein Miteinander erschaffen kann, dass aus mehr als nur rationalem Verständnis besteht.

Life is Strange True Colors Steph Ryan
Steph oder doch lieber Ryan? Oder solo bleiben? Die Qual der Wahl liegt bei euch. © PlayCentral

Das Einmaleins der Empathie

Der Zugang zu den einzelnen Charakteren entsteht hierbei zu großen Teilen durch Trauerarbeit. Mithilfe von Alex‘ Kraft lernen Spieler*innen im wahrsten Sinne des Wortes durch die Augen der anderen zu sehen und damit den Schlüssel zu finden, um ihnen über ihre Ängste, Sorgen, ihre Wut und ihre Traurigkeit hinweghelfen zu können. Warum wird sie von Existenzängsten geplagt? Woraus entsteht seine Eifersucht? Was genau macht sie so traurig? Man lernt „spielerisch“ den Wert von Menschlichkeit und Empathie anzuerkennen und wie man sich ihr bedient – auch ganz ohne Superkräfte.

Trauer hierfür als Ausgangspunkt zu nutzen, ist durchaus ein smarter Weg, da Menschen dafür bekannt sind, sehr unterschiedlich zu trauern und im Kontext ihrer Biografie extrem differenziert mit Verlust oder Schicksalsschlägen umzugehen. Umso wertvoller sind hier also die Erkenntnisse, die man erhält, wenn man sich in die andere Person und ihre Erlebnisse hineinversetzt. Hass und Wut können sich so schneller auflösen als einem lieb sein mag.

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© PlayCentral

Neben dem Einfühlungsvermögen an sich arbeitet „Life is Strange: True Colors“ dafür mit der Macht der Erinnerungen. Der Blick in die Vergangenheit einzelner Charakter offenbart Alex so oftmals die Lösung, wie anderen Menschen die Last von den Schultern genommen werden kann. Sinnbildlich wird dafür immer wieder die Erinnerungskultur von Haven Springes in den Fokus gerückt, sei es das Andenken an ein vergangenes Unglück in den Minen, eine verlorene Runde Russisch Roulette oder die Memoiren eines berühmten Klarinettenspielers der Stadt.

Hinzu kommen die Berührungen, die ich über meinen PS5-Controller nachfühlen konnte. Sei es die Hand auf der Schulter, die Umarmung oder der Händedruck – die leichten Vibrationen haben die emotionale Verbindung zu Alex‘ Geschichte subtil verstärkt, ebenso wie die Arcade-Spiele, das Lauschen der selbstgewählten Jukebox-Songs, die Comics über Thaynor oder die wunderbar geschriebenen Gespräche mit Haven Springs Bewohner*innen.

Dauergänsehaut: Die Magie der Musik

Unterstrichen wurde das unentwegt durch die Omnipräsenz der Musik. Wir alle wissen bereits aus Szenen wie The Last of Us 2 wie viel Emotion durch Musik in einer Spielszene ausgelöst werden kann. Ellies Version von „Take on Me“ erzeugt bei vielen bis heute Gänsehaut. Denselben Effekt hatte Alex‘ Version von „I’m a Creep“, der Trailer-Song im Startbildschirm von „Life is Strange: True Colors“ und jede einzelne Szene, in der der Soundtrack des Spiels präsent war. Also beinahe durchgängig.

Wie bereits in den anderen LiS-Teilen gibt es auch in True Colors die kleinen achtsamen Zen-Momente, in denen ihr euch hinsetzen, die wunderschöne Spielwelt beobachten und das Geschehen sacken lassen könnt, um einfach nur der Musik zu lauschen. So könnt ihr nicht nur zwischen den einzelnen Kapiteln durchatmen, sondern auch innerhalb der einzelnen Episoden.

Dazu gesellen sich zahlreiche Musik-Verweise im Spiel, wie Alex’s Bob Dylan-Kommentar „The answer, my friend, is blowin‘ in the wind“ beim Betrachten eines Windspiels oder einer Marihuana-Sorte mit Namen „Stairway to Haven“. Muss ich an dieser Stelle überhaupt noch erwähnen, dass die Fülle an liebevollen Details mein Herz in die Höhe schnellen lässt?

Doch die Liebe zum Detail ist nicht das einzige, was mich so bezaubert. Die Musik als ständigen Begleiter zu wählen, ist eine derart kluge und kreative Entscheidung, wenn man bedenkt, welchen emotionalen Wert sie hat. Sie ist so eng verknüpft mit Erinnerungen, Gefühlen und Stimmungen, dass sie in True Colours mehr als nur bloße Untermalung ist; sie ist fester und bemerkenswerter Bestandteil der Geschichte, sie ist Vermittler und Schlüssel zugleich. Und sie tut, was Empathie ebenso tut: sie verbindet.

Vom Soundtrack erschlagen wird man trotzdem nicht. Es gibt auch Momente der Stille, in denen sich die restliche Geräuschkulisse entfalten kann: sei es das Rauschen der Blätter im Wind, die Gespräche auf den Straßen oder das ehrfürchtige Schweigen bei einer Trauerfeier. Schade waren lediglich die abgeschnittenen Gespräche, die statt allmählicher leiser werden, beim Weggehen gerne mal abrupt unterbrochen worden sind.

Im falschen Moment

Außerdem habe ich mich gelegentlich über Alex‘ stoische Gelassenheit und ihre eher unpassend lässigen Kommentare beim altbekannten Ansehen von Objekten geärgert. Ganz nach dem Motto: Muss das jetzt sein? Es passt für mich eben nicht über Zombiepuppen zu lästern, während man gerade versucht ein Kind zu retten. Rückblickend bin ich allerdings froh, dass mich das Spiel nicht dauerhaft mit dem puren Ernst des Lebens konfrontiert hat, sondern auch mit seiner Leichtigkeit.

Schade ist nur, dass man zwischendurch nicht die Möglichkeit hat, selbständig zu speichern. Erst nach bestimmten Sequenzen speichert das Game automatisch. Möchte man True Colors zwischendurch beenden, muss man deshalb nach dem Neustart häufig ganze Szenen noch einmal spielen, was bei den Ladebildschirmen zwischen den einzelnen Locations selbst bei PS5-Ladegeschwindigkeit nicht immer angenehm ist. Wenigstens kann man mit Alex an bestimmten Stellen rennen, auch wenn ihre Lauf- und Treppensteiganimation bisweilen etwas ulkig aussehen.

Wettgemacht wird das durch die generelle Optik des Spiels. Grafisch gesehen ist das Spiel nämlich eigentlich eine Augenweide. Seien es die stimmigen Reflektionen in Alex‘ Brille, die bezaubernden Sonneneffekte bei Tage oder das Lichtermeer bei Nacht. Trotz aller Schwere im Spiel haben mir diese bildschönen Momente immer wieder ein Lächeln oder sogar ein Tränchen der Rührung auf die Wange gezaubert – und das obwohl ich doch sonst so knallhart bin.

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Cynthia Weißflog

Eigentlich Elbennymphe der Unsterblichen Landen, die sich bei PlayCentral.de als Videospiel- und Buchliebhaberin tarnt. Löffelt beim Artikeltippen exzessiv Nussmus und führt eine Dreiecksbeziehung mit Geralt und Yennefer. Rollenspiel-Enthusiastin, die in CS:GO grundsätzlich keine Hühner tötet.
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