Vielleicht sollte ich zunächst erst einmal erklären, wie ich Tell Me Why überhaupt spiele. Und damit meine ich nicht auf welcher Plattform, sondern vielmehr unter welchen Bedingungen. Bevor ich also voller Vorfreude und Neugier ins 2. Kapitel des neuen Dontnod-Spiels gestartet bin und meinen PC angeschalten habe, hab ich mir einen Kakao gekocht, den beginnenden Herbst mit Nebel und Regen vor dem Fenster genossen und dicke Socken angezogen.
Warum dieses Stimmungsbild? Weil das erste Kapitel mich so in eine Welt voller Geräusche, fantastischen Licht- und Tagesstimmungen und eine so feinsinnig kreierte Story gezogen hat, dass ich Teil 2 mit dem passenden Gaming-Setting gerecht werden wollte. Welche Wirkung das gezeigt hat, lest ihr in dieser kurzen, völlig spoilerfreien Review zu Episode 2.
Headset auf, Tell Me Why an
Mit dem Titel Familiengeheimnisse versprach das 2. Chapter von „Tell Me Why“ verstrickter und noch ein wenig emotionaler zu werden. Die Geschichte von Tyler und Alyson nahm zum Ende des ersten Kapitel bereits ein wenig mehr an Fahrt auf und gestaltete die familiäre Vergangenheit etwas komplizierter als zunächst angenommen. So begannen sich die Erinnerungen der Zwillinge plötzlich mehr und mehr zu unterscheiden und Dinge nicht mehr so zu sein, wie sie einst schienen. Dann der Cliffhanger.
Durch unsere ideale Vorbereitung mit einem heißen Getränk, warmen Füßen und dem Herbst vor der Tür waren wir gedanklich allerdings ganz schnell wieder im verschneiten Alaska. Die magische Soundkulisse des Spiels mit prasselndem Kaminfeuer, knarrenden Dielen und an Türen rüttelndem Wind hat uns den erneuten Einstieg in das 2. Kapitel merklich erleichtert und uns mit einer Cutscene der Extraklasse belohnt.
Tyler und Alyson als personifizierte Menschlichkeit
Die Suche nach des Rätsels Lösung besteht dabei im 2. Teil des Story-Adventures tatsächlich zu einem kleinen Teil aus puzzleartigen Minigames. Hauptsächlich wird die Aufmerksamkeit des Spielers nach den Zwischensequenzen jedoch durch die eigenen Interaktionen und die Entscheidungen zurückgewonnen, die von uns getroffen werden müssen.
Dabei ist mir zum ersten Mal aufgefallen, wie ich sowohl Tyler als auch Ally nie als klar definierte Charaktere in einem Videospiel wahrgenommen habe, sondern als wahrhaftige, reale Menschen mit völlig individuellen und vielseitigen Persönlichkeiten, für die ich plötzlich Entscheidungen treffen muss. Genau das macht einem „Tell Me Why“ aber besonders schwer, denn hier stellt sich nicht die Frage nach Gut oder Schlecht, sondern: Wofür steht dieser Mensch (ein)?
Und glaubt mir: Diese Frage ist in einem Game mit so vielen Verweisen auf Umweltschutz, Waffenbesitz, LGBTQ, kultureller Herkunft, die neben einer konservativer Lebensweise existieren, noch weitaus schwieriger zu beantworten. Diese Themen verfolgen einem deshalb auch nach Beenden des Spiels und was soll ich sagen, außer: Danke, dass ihr diesen Effekt erzeugt – zumindest bei mir.
Zwischen Lachen, Weinen und einem Life is Strange-Easter Egg
Obwohl „Tell Me Why“ mehrere tiefernste Themen behandelt und durch seinen Reichtum an Atmosphäre und Zwischenmenschlichkeit emotional triggern kann, haben die Entwickler so passend, geschickt und aufdringlich Humor eingeflochten, wie sie es mit allem anderen im Spiel auch getan haben. Und ensteht der Witz auch nur durch das optionale Lesen von Pinnwand-Einträgen. (Wieso gibt es in Delos so viele Pinnwände?).
Während ich also noch über das besondere Band der beiden Geschwister oder eine angenommene Entschuldigung ein Tränchen verdrücke, folgt eine so spontane und ungewöhnlich passende Reaktion von einem der Charaktere, die dem Gefühlsdusel seine Schwere nimmt und mich lachen lässt. Als würde mich jemand tröstend in den Arm nehmen. Wenn dann noch das langersehnte Easter Egg zum ersten Teil von Life is Strange als „weirde Werbung mit Zeitreisen“ kommentiert wird, kann es mit der Handlung emotional stabilisiert weitergehen.
Genau diese Vorgehensweise beim Aufbau einer Story, die zwischen kindlicher Unbeschwertheit und sorgenvoller Anspannung schwankt, ist bei Spielen solch emotionaler Tiefe meiner Meinung nach überaus wichtig. Es spricht für die Verantwortung, die die Entwickler von Dontnod bei „Tell Me Why“ übernommen haben und in unserer Review zum 1. Kapitel bereits näher von uns geschildert wurde.
Wie geht es weiter?
Nachdem das Ende für mich überraschend spontan und schmerzhaft kam, will ich natürlich sofort wissen, wie es weitergeht. Die Kapitelenden haben die Entwickler also ausgesprochen geschickt gesetzt. Außerdem lässt mich das Gefühl nicht los, ich hab es an einer Stelle stark vermasselt, denn in meiner Endversion des 2. Chapters waren sich Ally und Tyler ganz und gar nicht mehr einig.
Möglicherweise hab ich die Beziehung doch nicht so positiv beeinflusst, wie ich dachte. Ob mich das Spiel nur im Ungewissen lassen möchte oder ich „Tell Me Why“ bei einigen Gameplay-Mechaniken und Szenen unterschätzt oder sogar überschätzt habe, zeigt wohl erst das finale 3. Kapitel, das am 10. September 2020 für Xbox One, PC und im Xbox Game Pass erscheint. Kakao, Kuschelsocken und der nahende Herbst stehen jedenfalls schon bereit.
Informationen zum Testmuster: Der Code für Tell Me Why inklusive aller drei Kapitel wurde uns von Publisher Microsoft zum Testen zur Verfügung gestellt. Wir haben bis dato jedoch nur das 1. und 2. Kapitel gespielt, um unsere Reviews so authentisch und spoilerfrei wie möglich zu halten. Außerdem wurden wir darauf verwiesen, keinerlei Spoiler ohne Vorwarnung in unsere Review einzubauen. Außerdem fällt das Embargo-Ende stets mit Release der jeweiligen Kapitel-Veröffentlichungen. Es war uns erlaubt hervorzustellen, dass der Stereotyp Transgender wird durch ein Trauma verursacht keine erwiesene Grundlage besitzt und in Tell Me Why keine Rolle spielt. Für weitere Informationen verweisen die Entwickler auf das FAQ zum Spiel.