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Wisst ihr, was mir gefehlt hat? Ein Spiel mit viel Sinn und Verstand, aber ohne Action, ohne Stress, ohne fettes Szenario drum herum. Im Fokus: Eine entschleunigende Story, die so aktuell ist, dass es fast weh tut. Die keine Zombie-Apokalypse à la The Last of Us 2, ballernde Action wie in DOOM Eternal oder süße Inselbewohner im Animal Crossing-Style braucht. Gefunden habe ich genau das in Tell Me Why.
Wie ich im zweiten Teil meiner Review bereits geschildert habe, habe ich das neue Dontnod-Game nicht nur gespielt, sondern zelebriert. Für mich war der Titel nicht nur ein Spiel, um in eine andere Welt zu flüchten, sondern eine Reise in mein Inneres, ins Hier und Jetzt, die ziemlich viel in mir bewegt hat. Das macht „Tell Me Why“ für mich zu eines meiner absoluten Spielehighlights in diesem Jahr und ich erkläre euch, warum.
Tyler und Alyson als Boten mentaler Gesundheit
Für Entwickler Dontnod war es wichtig, keine Stereotypen zu erschaffen oder zu bestätigen. Mit den Zwillingen Alyson und Tyler als Protagonisten ist ihnen das meiner Meinung nach hervorragend gelungen. Die beiden repräsentieren für mich keine junge Frau mit Posttraumatischer Belastungsstörung oder einen Mann mit Transgender-Hintergrund. Sie repräsentieren für mich die pure Menschlichkeit.
Dontnod gelingt dieser Effekt durch den wohl gesetzten Fokus, der sich nicht ausschließlich auf eine Thematik oder eine Person bezieht, sondern auf verschiedenen Pfeilern und facettenreichen Charakteren ruht. Jede Episode hat außerdem bestimmte Schwerpunkte, aber nie in geballter Form. Nicht umsonst haben die Entwickler die Episoden mit einer Woche Abstand voneinander veröffentlicht. Es sollte durchaus ein Diskurs entstehen und nicht zu viel auf einmal zur Debatte stehen.
Eher soll der Spieler Stück für Stück an die Themen, Gedanken und Gefühle der Charaktere herangeführt werden, ohne davon erschlagen zu sein. Dafür wird zusätzlich mit einer Prise Humor gearbeitet, die den Zugang zu gewissen Themen erleichtert.
Als Ausgangspunkt für die Kernthematik der mentalen Gesundheit dienen in „Tell Me Why“ dabei die durch ein Trauma ausgelösten schweren Depressionen der verstorbenen Mutter, ein bildhafter Rückzug in eine einsame Hütte im Wald, die Beziehung zu den Kindern und die Liebe zu Geschichten.
Die Erleuchtung in Episode 3
Ganz ohne Metaphorik kommt ein vielschichtiges Spiel wie „Tell Me Why“ natürlich nicht aus. Deshalb greift das Game auf Märchen in einem Kinderbuch mit wunderschönen Illustrationen zurück, die perfekt zu dem Motiv der Erinnerungen, dem übernatürlichen Anteil des Spiels und seiner fantastischen Erzählweise passen. Darin kann der Spieler immer wieder stöbern, um Zusammenhänge zu entdecken oder kleine Rätsel zu lösen.
Es zeigt auch, wie wir manchmal um Ecken denken müssen, um die Gedanken und Emotionen anderer zu verstehen. Ja, bildhafte Vergleiche können auch noch Erwachsenen helfen, Menschen und Situationen besser zu begreifen. Gleichzeitig werden die angesprochenen Topics immer wieder durch konkrete Situationen, Aussagen, Briefe oder Sammelgegenstände genauer auf den Punkt gebracht, um zu verstehen, worum es in „Tell Me Why“ geht.
Gerade im finalen Kapitel kulminieren deshalb einige Ereignisse, zeigen Symptome wie Flashbacks und Angststörungen, die mir eine Sache wieder ganz deutlich vor Augen geführt haben: Wie wichtig es ist, füreinander da zu sein, zuzuhören und miteinander zu sprechen. Auch deshalb finde ich die telepathische Stimme und das besondere, magische Band zwischen Aly und Tyler so unglaublich symbolisch für die Message des Spiels.
In Zeiten der Krise so wichtig wie nie
Schon seit längerem wird deshalb mentale Gesundheit in Spielen thematisiert, egal ob in der Wikinger-Manier von Hellblade: Senua’s Sacrifice oder dem deutschen Indie-Hit Sea of Solitude. Doch gerade jetzt, in Zeiten einer Pandemie mit Ausgangssperren, sozialer Isolation und angespannter Wirtschaftslage nehmen derartige Probleme andere Dimensionen an, werden unsichtbarer und noch schwieriger zu greifen als ohnehin schon. Immerhin geschehen sie nun beinahe ausschließlich innerhalb der eigenen vier Wände.
Und hier bietet „Tell Me Why“ den nötigen Realismus und die direkte, aber geschickte Kommunikation mit dem Spieler, um ihn oder sie für den Umgang mit Betroffenen oder das eigene Wohlergehen zu sensibilisieren. Sogar eine Panikattacke wird in „Tell Me Why“ visualisiert und die Möglichkeit mit ihr fertig zu werden.
Tell Me Why – Mein Pauseknopf
Bitte beachtet, dass „Tell Me Why“ für mich zu einer sehr persönlichen Erfahrung geworden ist, da mich verschiedene Themen im Spiel selbst betreffen oder Menschen in meinem näheren Umfeld. Wie das Game auf andere Personen wirkt, darf und möchte ich an dieser Stelle nicht beurteilen.
Ich weiß nur, dass in diesem Spiel so viele Themen aufeinander treffen, die mich zu verschiedenen Erkenntnissen geführt, meine Erinnerungen aufgefrischt und erneut gezeigt haben, dass wir alle gelegentlich Hilfe brauchen. Zum Ende von TMW wird deshalb ein Hinweis eingeblendet, den ich an dieser Stelle ebenfalls einfügen möchte, um auch den Leser dieses Tests daran zu erinnern: Du bist wertvoll, genau so wie du bist und vor allem bist du niemals allein.
Informationen zum Testmuster: Der Code für Tell Me Why inklusive aller drei Kapitel wurde uns von Microsoft für Review-Zwecke zur Verfügung gestellt. Außerdem wurden wir darauf hingewiesen, keinerlei Spoiler in unsere Review einzubauen. Das Embargo-Ende von Kapitel 3 fiel mit Release des finalen Chapters am 10. September 2020. Es war uns erlaubt hervorzustellen, dass der Stereotyp Transgender wird durch ein Trauma verursacht keine erwiesene Grundlage besitzt und in Tell Me Why keine Rolle spielt. Für weitere Informationen verweisen die Entwickler auf das FAQ zum Spiel.