Qualität vs. Quantität – eine schnelllebige, digitale Welt
Dieses wahnwitzige Konstrukt wirft wiederum die Frage auf, warum wir uns in einer derart schnelllebigen Welt befinden. Alles muss schneller, größer und faszinierender sein. Mehr Serien, mehr Action, mehr Unterhaltung. Das Marvel Cinematic Universe plant ab 2021, bis zu vier Filme pro Jahr zu veröffentlichen. Schaffen wir es an dieser Stelle überhaupt noch den Wert der einzelnen Produkte wertzuschätzen?
Menschen arbeiten jahrelang an Produkten. Hunderte bis Tausende Menschen sind involviert, nur damit wir Serien immer schneller wegkonsumieren und diese im Regelfall wieder in den großen Weiten des Internets verschwinden. The Variety berichtete erst vor einigen Wochen, dass Netflix im Jahre 2019 so viele TV Shows produziert hat, wie die gesamte (!) TV-Industrie im Jahre 2005. Das spiegelt sich gleichzeitig auch in den Mitarbeiterzahlen von Netflix wieder. Allein die Vollzeitstellen sind zwischen 2015 und 2018 von 3500 auf 7100 angewachsen. Das ist eine Verdoppelung der Mitarbeiterzahlen innerhalb von drei Jahren und das, obwohl das Unternehmen bereits seit 1997 existiert. Schon beim Marvel Cinematic Universe wird sich über ein zu hohes Tempo beschwert – wie kann ein Studio überhaupt noch kreativ arbeiten, wenn parallel derart viele Projekte laufen und die Maschinerie von Natur aus schon zur Fließbandarbeit abgestimmt ist?
Es ist der Zustand in einem Wettbewerbsmarkt, der im Englischen auch unter dem Begriff Hypercompetition, also Hyperwettbewerb, zusammengefasst wird. Der Menschenverstand würde argumentieren, dass es mit dem Hintergrund der kreativen Arbeit Sinn machen könnte, sich auf weniger Serien und Filme zu fokussieren, diese dann aber vollständig auszureifen und weiterzuentwickeln. Stattdessen leben wir in einem digitalen Markt, in der jeder Streamingdienst mehr und mehr Produkte produziert, um so einen kurzlebigen Wettbewerbsvorteil zu erschaffen und so die Kunden zumindest kurz- und mittelfristig an sich zu binden. Das mag aus einer ökonomischen Sichtweise sinnvoll erscheinen, lässt mich an dieser Stelle aber auch daran zweifeln, ob dieses System für den Endkonsumenten wirklich die beste Alternative ist. Könnten wir nicht auf diese schiere Masse an Serien verzichten und dafür in den Genuss etwas weniger Serien und Filme kommen, die dafür in der Regel auch gut abliefern und ausgereifter sind?
Um an dieser Stelle den Kreis zur Binge- vs. Weekly-Watch-Systematik zu schließen: Lohnt es sich für die Unternehmen überhaupt, kreative Arbeit zu würdigen? „The Witcher“ wird gesamtheitlich als gute Serie tituliert – die Qualität einzelner Folgen sticht in der Regel aber nur selten hervor. Es ist wieder die Thematik der Fließbandarbeit. „Die gesamte Serie war gut, nächstes Produkt bitte!“, heißt es dann von den Zuschauern. „The Mandalorian“ hat in seinen zwei Monaten Laufzeit ebenso viele Folgen hervorgebracht, die in sich betrachtet aber deutlich tiefer von den Zuschauern analysiert wurden. Wer zwischen den Folgen auf Reddit und ähnlichen Plattformen Kritiken gelesen hat, wird in der Regel die Meinung angetroffen haben, dass die „ersten Folgen ganz gut waren, dann kamen ein paar Filler aber diese Gefängnisfolge war schon ziemlich geil! “. Das ist wertvoller Input, der in einer kommenden, 2. Staffel von „The Mandalorian“ verarbeitet werden kann.
Die Zuschauer haben daher Zeit, sich mit der kreativen Arbeit auseinanderzusetzen und sich eine eigene, fundierte Meinung zu bilden. Netflix muss sich mit der eben angesprochenen Gesamtbewertung sowie dem Hype einiger besonderer Szenen zufriedengeben. Bleibt am Ende die Frage, wie sich ein solches Veröffentlichungssystem also auf die objektive Bewertbarkeit einer solchen Serie auswirken kann. Kann eine Binge Watching-Serie überhaupt besser sein, als eine Serie mit Wochenformat?