Artikel

Twitch: Pussy, Cock & Co: Mit Tourette auf Twitch

Im amerikanischen Fernsehen wird jedes unsittliche Wort weggepiept. Wer allzu heftig auf Twitch oder YouTube mit Schimpfwörtern um sich wirft, riskiert ebenso eine Account-Sperre. Doch was passiert, wenn das Hinausschreien von Obszönitäten auf eine Erkrankung zurückzuführen ist? Unser Autor Manuel „SgtRumpel“ Schmitt beschäftigt sich in seiner Kolumne mit einer Twitch-Streamerin und mit der Krankheit, die sie so außergewöhnlich macht.

Wie alles begann …

Im August 2018 erstellte eine junge Frau aus England einen Twitch-Kanal. Seitdem streamt sie unter dem Namen Sweet_Anita hauptsächlich Overwatch und ist in kurzer Zeit zu einem Phänomen geworden. Zur Zeit der Veröffentlichung dieses Artikels hat ihr Kanal knapp 450.000 Follower gesammelt, sie ist auf Instagram, Twitch und Youtube vertreten, hat eigenen Merchandise, wird immer wieder zum Gegenstand diverser Artikel auf Blogs, Gaming-Webseiten wie Kotaku und sogar Klatsch-Zeitungen wie The Sun. Der Grund: Sweet_Anita leidet am Tourette-Syndrom.

Anita ist hübsch. Sie wirkt jünger als die 28 Jahre, die auf ihrem Kanal angegeben werden. Lange dunkle Haare, schlanke Figur, große, aufmerksame Augen und eine natürliche Ausstrahlung, zusammen mit einer positiven, quirligen Persönlichkeit, schneller Auffassungsgabe und Schlagfertigkeit – gute Voraussetzungen also, um auf Twitch erfolgreich zu sein. Aber bei Weitem keine Garantie. Das, was Sweet_Anita so bekannt werden ließ, sind die unwillkürlichen, vulgären Zwischenrufe, die im starken Kontrast zu ihrem Aussehen und ihrer Persönlichkeit stehen.

Die unflätigen Ausdrücke unterbrechen oft ihren Erzählfluss, manchmal flechten sie sich aber wie natürlich in ihre Sätze ein. Es ist wie ein unerwarteter Themenwechsel, nur um kurz darauf wieder auf das Eingangsthema zurückzukommen: „Meine Hobbies bestehen hauptsächlich aus Fisten einer Katze, eine Katze ficken, mehr Katzen ficken, ääähm, der Betreuung von Tieren.“ (Original: „My Hobbies include fisting a cat, fucking a cat, go on, fucking a cat, aaahm, looking after animals, mainly.“) Diese Ausbrüche und die nonchalante Art, wie Anita mit ihnen umgeht, sind oftmals urkomisch und werden von der Community dementsprechend honoriert.

Über das Leben mit Tourette

Hinzu kommen zwei weitere, sogenannte akustische Tics (das Wort „Tic“ kommt übrigens aus dem Französischen): Ein Plop-Laut, den sie mit den Lippen macht und ein Pfeifgeräusch, das an ein SMS-Signal erinnert. Das Tourette-Syndrom ist eine angeborene Erkrankung des Nervensystems, die in einer zentralnervösen Bewegungsstörung resultiert. Anita spricht offen über ihr Leben mit Tourette, erzählt von dem langen und schmerzhaften Weg zu einer – irgendwie befreienden – Diagnose und den immer wieder peinlichen, manchmal sogar gefährlichen Momenten, die sie dank der Krankheit durchleben musste.

In langen Chat-Runden geht sie auf Fragen aus der Community ein: „Ich bin bereit für den Chat … Ich bin bereit für einen Schwanz … Ich bin bereit für zehn Schwänze und einen Baseballschläger.“ (Original: „I’m up for a chat… I’m up for a dick… I’m up for ten dicks and a baseballbat…“) Sie spricht über die Art der Tics und in welchen Situationen sie stärker hervortreten. Nicht alle ihre Tics sind vulgär; tatsächlich ist das unkontrollierte Ausrufen von Obszönitäten ein extrem seltenes Symptom des Tourette, das sich Koprolalie nennt – und doch ist wahrscheinlich gerade dieses Symptom eine der wichtigsten Zutaten in der Sweet_Anita-Rezeptur.

1 2Nächste Seite
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"