Erfolgreich mit Kraftausdrücken und Schimpfwörtern
Es gibt unzählige Beispiele aus der Unterhaltungsbranche, deren Erfolg (unter anderem) auf unflätige Ausdrucksweise zurückzuführen sind. Eddie Murphy schockierte zu Beginn seiner Karriere das amerikanische Publikum mit Worten, die es bis dato nicht auf einer Bühne gehört hatte. Ebenso der Stand-Up-Comedian George Carlin; ja sogar jemand wie Chefkoch Gordon Ramsey ist hauptsächlich für seine Schimpftiraden bekannt. Und auf YouTube ist Anita übrigens nicht die einzige, die trotz – oder eben wegen – Tourette erfolgreich Content produziert. In Deutschland hat der Kanal Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette über 1,3 Millionen Follower erreicht. Dort teilt Jan seine Erfahrungen mit der Krankheit.
Heute, etwa ein Jahr nach ihrem Start auf Twitch, verkauft Anita Merch mit einigen ihrer Aussprüche („My Dick is on Fire“, „Can I Fuck Your Friends?“), sie betreibt einen Twitter-Kanal, der regelmäßig die besten – meist obszönen – Daily-Tics dokumentiert, und es gibt unzählige Zusammenschnitte auf YouTube, die sich auf die vulgären Highlights konzentrieren. Dann ist da natürlich noch der Chat, der besonders die unanständigen Tics zelebriert und auf neue, bisher noch nicht dagewesene Wortkombinationen wartet. Anita selbst und ihre Community zelebrieren dieses Alleinstellungsmerkmal der Obszönität; denn durch ihre Erkrankung hat die Streamerin eine Art Carte Blanche was ihre Ausdrucksweise betrifft, sodass sogar das sonst recht prüde Twitch hier eine Ausnahme macht.
Tic of the day;
What is cunt?
Baby don’t smurf me,
don’t smurf me,You whore.
— Sweet Anita (@Tweet4nita) July 14, 2019
Die Frage nach der Authentizität
Tatsächlich ist diese Mischung aus dem netten, hübschen Mädchen, den überraschend obszönen und dadurch unterhaltsamen Ausfällen und der offenen, eloquenten, selbstreflektierten und in sich ruhenden Art, wie Anita sich in den Streams gibt, der Kern für Zweifel und Misstrauen. Neben ihrer Community gibt es zahlreiche Menschen, die an der Authentizität der Tourette-Erkrankung von Sweet_Anita zweifeln. In einem Artikel auf Kotaku werden Ärzte zitiert, nach denen Tourette-Patienten ihre Tics normalerweise meist versuchen zu unterdrücken – etwas, das bei den Videos von Anita nicht zu erkennen ist.
Zudem wirken zahlreiche ihrer Geschichten so unglaubwürdig, dass sie weitere Skeptiker hervorrufen: So soll sie ein Jahr lang in einem Baumhaus mit Hippies gewohnt haben. Aufgrund ihrer Krankheit habe sie menschlichen Kontakt vermieden und sich stattdessen den Tieren zugewendet, sodass sie sich zeitweise um etwa 200 Schützlinge gekümmert habe. Das Wort „Banana“ rufe so heftige Tics hervor, dass sie Tage danach Schmerzen habe und Blut erbrechen müsse, weshalb das Wort in ihren Streams gebannt wurde. Ach ja, und sie sammelt leidenschaftlich Tierschädel.
Diese Geschichten haben hohen Unterhaltungswert, doch gibt es keine Bekannten oder Freunde, die diese Erlebnisse bestätigen können. Anita will, dass die Anonymität ihres Privatlebens – nachvollziehbarer Weise – respektiert wird. Außerdem verweigert sie jegliche Veröffentlichung einer offiziellen Diagnose ihrer Erkrankung. Das Problem dabei: In der heutigen Zeit ist Authentizität nicht immer zweifelsfrei erkennbar. Der Streamer Angel Hamilton aka ZilionOP wurde von Twitch gebannt, nachdem er aus Versehen vor laufender Kamera aus seinem Rollstuhl aufstand und dadurch preisgab, dass seine Gehbehinderung – Grund für viele seiner Donations – lediglich gespielt war. Schon 2006 gab es eine VLog-Serie auf YouTube, die angeblich von einem Teenager namens lonelygirl15 gemacht wurde, die sich aber als Inszenierung herausstellte.
Das Phänomen Sweet_Anita ist ambivalent
Je mehr ich über Anita las und je mehr ich von ihr in den Videos sah, desto deutlicher kristallisierte sich die Ambivalenz ihrer Person heraus. Sollte sie tatsächlich Tourette haben und auch nur die Hälfte ihrer Geschichten wahr sein, dann ist sie eine bewundernswerte Frau. Eine Person, die jede Aufmerksamkeit und finanzielle Zuwendung verdient hat und die als leuchtendes Beispiel für den Umgang mit einer bitteren Erkrankung gelten kann. Jemand, der nach all den Schicksalsschlägen immer noch von Grund auf positiv ist und das Leben umarmt, könnte vielen Menschen Mut machen.
Tatsächlich erzählt sie in einem Podcast, dass viele Mitglieder ihrer Community durch sie überhaupt erst erfahren haben, was mit ihnen los ist. Andere haben sogar den Mut gefunden, sich wieder unter Leute zu begeben. Doch all das würde zusammenbrechen, sollte ihr Tourette-Syndrom gespielt sein. Dann ist es wie ein Schlag ins Gesicht jener, die tatsächlich mit dieser oder einer anderen Krankheit aufwachsen. Dann ist es eine Vermarktung rein um des Geldes willen und nicht, um aus einer schlimmen Situation das Beste zu machen.
Ich für meine Person habe beschlossen, ihr zu glauben. Ihr zu glauben, dass sie aufgrund ihres Tourettes niemals in ihrem Leben eine Anstellung finden konnte. Dass ihr vor der Diagnose vorgeworfen wurde, sie wolle sich nur in den Vordergrund spielen. Dass Twitch und die Community, die sie sich dort erarbeitet hat, das Beste ist, was ihr passieren konnte. Vielleicht ist es die Natürlichkeit, mit der sie über alles redet; diese Offenheit finde ich entwaffnend und ehrlich. Vielleicht sind es die Tics, die so konsequent und in einer Vielfalt auftauchen, dass ich es für beinahe unmöglich halte, dass alles gespielt sein soll.
Vielleicht irre ich mich aber auch. Fuck my biscuit…