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Ach, Watch Dogs: Legion, du machst es uns wirklich nicht leicht. Du bist wie der morgendliche Kaffee aus der alten, verkalkten, aber etablierten Kaffeemaschine. Er wärmt uns, macht uns wach, aber vom Hocker reißt er uns echt nicht. Deshalb garnieren wir ihn gerne mit einem Häubchen aus Dosensprühsahne. Du bist auch ein wenig wie das alte T-Shirt, das wir schon seit 8 Jahren tragen. Es ist ausgeleiert, hat ein, zwei Löcher, aber es ist einfach so unfassbar bequem. Deshalb pimpen wir es mit feschen Bügelbildchen und stopfen die unansehnlichen Löcher.
Wer mit diesen sprachlichen Bildern nun wenig anfangen kann, sollte unsere Review zur Solokampagne lesen und sich erklären lassen, wieso wir uns mit diesem Spiel gerne solange die Zeit vertreiben bis ein besseres kommt.
Welcome to Watch Dogs: Legion
Drohnen, die wie fliegende Grafikkarten aussehen, selbstfahrende Autos und neonfarbene Hologramme wohin man nur sieht. Nein, das ist nicht Cyberpunk 2077, sondern die offene Spielwelt des Post-Brexit-Londons, das wir in „Watch Dogs: Legion“ erkunden. So weit, so technisch fortschrittlich. Menschlich befinden wir uns dagegen wohl wieder in der Steinzeit, denn hier herrscht das Recht des Stärkeren, zumindest das des stärkeren Einflusses: Korruption, Unterdrückung und Machthabe stehen an der Tagesordnung, Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt prägen das Stadtbild.
Dann wird das ohnehin schon gebeutelte London von mehreren Explosionen heimgesucht, die zahlreiche Opfer fordern und ganz klar der terroristischen Untergrundorgansiation DeadSec zuzuordnen sind. Zumindest will das die zwielichtige Sicherheitsbehöre Albion die Leute glauben lassen. Als lahmgelegtes DeadSec-Mitglied sehen wir das Ganze jedoch anders und wollen unsere Unschuld beweisen, indem wir die wahren Verursacher dingfest machen: Die mysteriöse Gruppierung Zero-Day. Während wir dabei sind unsere eigenen Hintern zu retten, stoßen wir allerdings auf einen Pulk weiterer Machenschaften, denen wir gemeinsam mit unserer reaktivierten Hacker-Bagage auf den Grund gehen wollen.
Alles ist so austauschbar
Seid ihr zu Beginn eines Spiels Fans davon allein zwei Stunden im Charaktereditor festzuhängen, um euch euren eigenen Protagonisten zu erstellen, wird euer Aufwand hier überflüssig und mit einer Auswahl Starterfiguren abgekürzt. Habt ihr einen ausgewählt, geht es auch sofort los mit der personifizierten Zivilcourage und der Rebellion gegen die Obersten.
Denn anschließend setzt „Watch Dogs: Legion“ auf das Novum, sämtliche Bürger auf den Straßen Londons für das DeadSec-Team rekrutieren und spielen zu können. Einen vorgefertigten Charakter wie Aiden Pearce aus dem ersten „Watch Dogs“-Teil, der später zumindest via DLC ins Spiel findet, oder Markus Holloway aus „Watch Dogs 2“ gibt es demnach ebenso wenig, dafür eine gigantische Vielzahl austauschbarer Charaktermodelle.
Egal ob Steuerberater, Anwalt, Bauarbeiter, Sprayer, Obdachloser oder Albion-Mitarbeiter, ihr könnt nahezu alle Bewohner Londons anheuern. Besonders gute NPC werden euch zudem auf der Karte markiert. Das System glänzt hierbei mit vielen verschiedenen Charakterdesigns, Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Synchronsprechern, ohne allzu schnell Zwillinge aufkommen zu lassen. Austauschbar macht sie das trotzdem und das spürt man auch in der buchstäblich unpersönlichen Story.
Die fehlende Connection
Wir verbinden zumeist Emotionen und gemeinsame Erlebnisse mit unserer Hauptfigur, dem Gesicht des Spiels. Noch mehr, wenn er oder sie in Kombination mit einer starken charakterbasierten Erzählung in Erscheinung treten. „Watch Dogs: Legion“ macht das aufgrund der Möglichkeit einfach jeden spielen zu können allerdings nicht möglich. Darunter leiden nicht nur die Dialoge der rekrutierten DeadSec-Agenten, sondern auch die Geschichte, die oftmals zu vorhersehbar, oberflächlich und unpersönlich wirkt. Und das obwohl die erzählerische Basis und das düstere Setting durchaus vielversprechend sind.
Am meisten Wiedererkennungswert besitzt paradoxerweise die künstliche Intelligenz Bagley, mit der die rebellischen Hacker zusammenarbeiten. Auch DeadSec-Head Sabine bringt etwas Leben und Einzigartigkeit ins Spiel. Hin und wieder kommen dabei neben etwas zu episch gestalteten Briefings die typischen draufgängerischeren Watch Dogs-Sprüche zustande, die nicht darüber hinwegtäuschen können, das vieles davon etwas zu gewollt wirkt – wie so vieles im Spiel.
Wir mögen das neue Feature
Wenn es zum innovativen Spielelement des wechselnden Protagonisten und die Spielbarkeit einer jeden Person kommt, hat sich Ubisoft dennoch Gedanken gemacht. Jeder einzelne NPC besitzt einen eigenen Zeitplan, eine Hintergrundgeschichte und eigene Kontaktpersonen, die euch gelegentlich zur Rekrutierung eines Wunschkandidaten verhelfen können.
Verwandte, Bekannte oder Ehepartner der einzelnen DeadSec-Agenten könnt ihr sogar auf der Straße begegnen und vor gewalttätigen Polizisten retten, indem ihr den bösen Cops im Vorbeigehen einen subtilen, aber wirksamen Stromschlag verpasst. Eure Agenten können jedoch auch selbst in Probleme verwickelt und müssen von ihren Kollegen gerettet werden, wenn sie beispielsweise entführt worden sind. Bis auf einige Gespräche im DeadSec-Versteck entstehen hierbei aber keine weiteren tiefen Bindungen untereinander.
Habt ihr euer Team nach euren Wünschen und präferierten Spielstil zusammengestellt, könnt ihr entweder bei einer Figur bleiben oder regelmäßig durchwechseln. Gelegentlich müsst ihr jedoch einen anderen DeadSec-Hacker spielen, um gewisse Missionen abschließen zu können.
Ubi-Formel trifft auf Permadeath
Der Fokus scheint genau an dieser Stelle jedoch zu stagnieren, denn alle anderen Elemente fühlen sich so überhaupt nicht innovativ, sondern ziemlich Ubisoft-like an. Das klassische Open-World-Szenario mit meist belanglosen Nebenquests, Gebietsfreischaltungen und netten Upgrades bleibt das gleiche: Es gilt zumeist Orte mit gehackten Drohnen und Videokameras auszukundschaften, sich einen Weg in feindliches Terrain zu bahnen und Feinde via Stealth, fancy Hacker-Gadgets, explodierenden Stromkästen oder coole Balleraction auszuschalten.
Sprayer nieten ihre Gegner hierbei gerne mal mit einer Sprühdose um, Bauarbeiter machen lässige TakeDowns mit der Nagelpistole. Wird euer aktiver DeadSec-Agent dabei verletzt oder festgenommen, wechselt ihr bei deaktivierten Permadeath einfach zu einem anderen Teammitglied und macht genau an der Stelle weiter, wo der Vorgänger gescheitert ist.
Aber wie funktioniert das jetzt mit Permadeath? Zunächst einmal ist der Permadeath optional, ihr könnt das Feature einfach zu Beginn aktivieren oder deaktivieren. Entscheidet aber weise und anhand dessen wie ihr das Game spielen wollt, denn die Funktion kann wirklich erbarmungslos sein. Tatsächlich ist das Spiel nämlich so verwoben, dass ihr nicht nur euren aktiven Agenten verlieren könnt, sondern auch die Gunst potenziell rekrutierbarer Freunde oder Familienmitglieder des Charakters.
Sie waren stets bemüht
Garniert wird Herkömmliches also mit einem innovativen Spielelement, das wenigstens ein bisschen Abwechslung im Ubisoft-Programm garantiert. Wir kennen das Vorgehen und den Open-World-Baukasten von Assassin’s Creed und Co nur zu gut. Deshalb ist das Hacken per Knopfdruck in „Watch Dogs: Legion“ weitestgehend immer noch das gleiche, das wir aus den Vorgängern kennen und auch Rätselpassagen wie die drehbaren Strommodule kehren in gewohnter Form zurück.
Ergänzt wird das Ganze durch eher überflüssige Zeitvertreibe wie Fußbälle jonglieren oder lückenfüllende Spiderbot-Runs, die uns bisweilen eher Nerven gekostet als Freude bereitet haben. Abwechslungsreich ist das Gameplay sie trotzdem. Dafür machen die Fahrten in den teils futuristischen und teils klassischen Autos im wirklich authentisch wirkenden London umso mehr Spaß. Auch die Ausflüge mit der Frachtdrohne inklusive epischen Ausblick auf die Skyline haben uns zwischenzeitlich in eine befriedigende GTA-Stimmung versetzt.
Ohnehin lässt das Spielerlebnis das hohe Budget erkennen, das vermutlich investiert wurde, denn „Watch Dogs: Legion“ ließ sich flüssig spielen und hatte nahezu keine Bugs oder Glitches zu verzeichnen. Die etwas länger andauernden Ladebildschirme werden aber wohl erst auf PlayStation 5 oder Xbox Serie X der Vergangenheit angehören. Auch grafisch wird der Titel auf den Next-Gen-Konsolen wahrscheinlich noch etwas überzeugender sein als auf unserer PlayStation 4 Pro. Vorerst ist das Spiel ab dem 29. Oktober 2020 jedoch nur auf PC, PS4 und Xbox One spielbar.